Mittwoch, 24. August 2016

Wenn kleine Kinder unsere Helden werden


Seit 2010 in Syrien der Krieg anfing, sehen wir fast täglich in den Nachrichten einen Artikel oder eine Reportage über diesen Krieg. Wir sehen dauernd Bilder von Zerstörten Gebäuden und Flüchtlingen, Bilder von kaputten Denkmälern und Städten, die keine mehr sind. Für die Menschen in Syrien ist es zum Alltag geworden, in ständiger Angst leben zu müssen oder kein sicheres Dach über den Kopf zu haben. Mittlerweile ist es für uns zum Alltag geworden, ständig Nachrichten über den Krieg zu sehen und Nachrichten darüber zu lesen, dass wir gar nicht mehr sosehr darüber nachdenken. Ich glaube nicht, dass die folgende Aussage auf jeden zutrifft, aber ausschreiben werde ich diesen Gedanken schon: Da wir ständig von einer riesigen Nachrichts-Flutwelle überrollt werden, sind wir mit der Zeit etwas abgestumpft und werden nicht mehr sehr emotional, wenn wir etwas lesen. Die schockierende Wirkung, die die Nachrichten vor einigen Monaten noch auf mich hatte, hat mit der Zeit deutlich nachgelassen. Mir war es fast egal, was ich in den Nachrichten las.


Dies änderte sich aber, als ich heute ein Video von einem fünfjährigen Jungen namens Omar Daqneesh in Aleppo sah, dessen Gesicht blutüberströmt war und dessen Körper mehrere Verletzungen aufwies. Er wurde von einem Mann in den Sitz eines Krankenwagens gesetzt. Überall blitzten Kameras, und die umstehenden Erwachsenen gingen pragmatisch vor, aber man hörte ängstliche Stimmen und Schreie. Der Junge, der nun auf dem orangefarbenen Sitz des Krankenwagens sass, hatte ein sehr verwirrtes Gesicht und schien die Situation überhaupt nicht zu begreifen. Man sah kein weinen, keine Rufe nach seiner Mama. Mit einem aufgelösten Blick starrte er in die Kamera und wischte sich über das Gesicht, um festzustellen, dass er blutete.

Dieses Video war für mich eine Art Weckruf. Während ich mein sicheres Leben führte, täglich zur Schule ging und eine Familie und gute Freunde hatte, wurden andere Kinder in Kriegsgebieten fast tödlich attackiert. Ich wusste, dass es an einigen Orten halt Krieg gab und dass Menschen starben und attackiert wurden. Ich habe schon öfters Bilder von Männern im Krieg gesehen, aber mich hatten diese Bilder nie wirklich bewegt, diese Bilder lösten nie grosse Gefühle in mir aus. Aber als ich das Bild von dem Kind sah, war ich zutiefst schockiert.

Warum sind es immer Bilder von Kindern, die uns zum Nachdenken bringen? Denn das wäre nicht das erste Mal, wo ein Bild von einem jungen Kriegsopfer rund um die Welt geht und die Herzen derer berühren, die das Bild sehen. Vor ungefähr einem Jahr trendete das Bild von dem Flüchtlingskind Aylan, der tot am Strand von Bodrum, Türkei lag. In 1972 kreiste das Bild von Kim Phuc in Vietnam um die Welt. Obwohl man 1972 kein Internet hatte, öffnete das Bild die Augen der Menschheit. Man realisierte, dass die meisten Kriegsopfer junge, unschuldige Kinder sind.


Die Kinder können gar nichts dafür, dass der Krieg tobt, aber sie sind diejenigen, die das meiste Leid ertragen müssen. Sie verlieren ihre Eltern, Sie verlieren ihr Zuhause, ihre Geschwister und vor allem eine schöne Kindheit. Kinder verstehen die Gründe des Krieges nicht, und sie können sich auch nicht selber schützen. Wenn wir Bilder von Kindern sehen, können wir uns auch gut in sie hineinversetzen, da wir uns selbst sehr gut an unsere Kindheit erinnern. Wir erinnern uns auch, dass wir viele Erwachsenenthemen nicht verstanden. Bilder von verletzten Kindern berühren uns auf eine andere Weise wie Bildern von erwachsenen Männern, die mit Waffen auf andere zielen. Erwachsene sind nämlich gut darin, ihre Emotionen zu verbergen, während Kindern die Emotionen ins Gesicht geschrieben sind. Man hat das Gefühl, dass Erwachsene gut mit dem Krieg und dem Tod umgehen können, schliesslich haben die Erwachsenen ja irgendwie zum Krieg beigetragen, wenn auch nur indirekt. Aber Kinder, Kinder können nichts dafür. Sie verkörpern die Unschuld. Bilder von Kinder, die vom Krieg betroffen sind, sind deshalb unsere Helden.

4 Kommentare:

  1. Ein sehr ausführlicher und in die Tiefe gehender Beitrag, der mich sehr berührt. Sie beschreiben zunächst den Prozess der Abstumpfung, dann die Videoaufnahmen von Omran und was sie bei Ihnen auslösten. Zuletzt setzen Sie sich mit der Frage auseinander, wie die Situation für Kinder sein muss und finden darin den Grund für das Phänomen, weshalb Bilder von leidenden Kindern bei uns so eine große Wirkung und Betroffenheit auslösen. Ich bin beeindruckt, auch von Ihrer differenzierten Sprache!!!

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    1. Danke, es erfreut mich dass ihnen der Text gefallen hat.

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  2. Einen super Artikel! Sehr gut aufgebaut und ich kann all deine Gedankengänge nachvollziehen, auch wenn ich nicht immer gleicher Meinung bin.

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